Von Ramesh Jaura
BERLIN (IDN) – Die Atomarsenale der USA und Russland, die etwa 90 bis 95 Prozent aller weltweit vorhandenen Nuklearwaffen umfassen, könnten unsere gesamte Zivilisation in weniger als 90 Minuten vollständig auslöschen. Diese Warnung formulierten prominente Atomwaffengegner in einem Schreiben an den US-Kongress, das Pentagon, das US-Außenministerium sowie an weitere politische Entscheidungsträger.
Mit dem Schreiben reagierten sie auf Berichte über ein im September im britischen Luftraum abgefangenes russisches Kampfflugzeug vom Typ Tupolew Tu-160. Unbestätigt ist bisher, ob das Flugzeug nukleare Sprengköpfe an Bord hatte und zu welchem Zweck. Die Verfasser des Briefes forderten Russlands Staatschef Wladimir Putin und US-Präsident Barack Obama auf, sich unmittelbar auf eine “sofortige Reduzierung der nuklearen Risiken” zu einigen, die bereits aus militärischen Übungen mit nuklearer Ladung entstehen könnten.
Die Atomwaffengegner warnten, dass, käme es zu atomaren Angriffen, im Ernstfall die gesamte Bevölkerung ausgelöscht werden könnte: “Die Vernichtung zahlreicher Städte durch Feuer und der Tod von bis zu der Hälfte der Weltbevölkerung hätten katastrophale Folgen für das globale Klima”, heißt es in dem Brief. “Davon wären auch Länder betroffen, die in den anfänglichen Konflikt nicht involviert gewesen waren. Auf der Erde könnte es dann noch kälter werden als während der letzten Eiszeit. Die meisten Überlebenden würden in der Dunkelheit eines nuklearen Winters entweder verhungern oder erfrieren.”
Warnung vor apokalyptischen Konsequenzen
Bei dem Schreiben waren die Organisationen ‘Human Survival Project’ (HSP) und ‘People for Nuclear Disarmament’ (PND), beide mit Sitz in Australien, federführend. PND ist seit 1960 in Australien aktiv und hat großes Gewicht innerhalb der internationalen Abrüstungsbewegung. Zu den Unterzeichnern zählen außerdem die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), die 1985 den Friedensnobelpreis erhielt, die ‘Vision Campaign 2020’ der Bürgermeister für den Frieden, die ‘Middle Powers Initiative’, der ‘World Future Council – WFC’, die ‘Nuclear Age Peace Foundation’ sowie Parlamentarier.
HSP und PND erklärten, dass russische und NATO-Truppen in der letzten Zeit mehrere Übungen absolviert hätten, auf die die andere Seite zeitnah auf ähnliche Weise reagiert habe. Wenn Kampfjets bei diesen Übungen mit Atomwaffen ausgestattet wären, hätte dies leicht zu katastrophalen Konsequenzen führen können, heißt es in dem Schreiben. Auf dieses Risiko hatten zu verschiedenen Anlässen in diesem Jahr auch schon die Generäle James Cartwright und Wladimir Dworkin, die Verantwortlichen für die Nuklearwaffen der USA beziehungsweise Russlands, aufmerksam gemacht.
‘De-alerting’ soll Gefahr von Atomschlägen minimieren
Die Abrüstungsgruppen dringen vor allem auf drei Maßnahmen zur Reduzierung des nuklearen Risikos: Erstens eine Absenkung der Atom-Alarmstufe, damit politische Entscheidungsträger nicht innerhalb weniger Minuten apokalyptische Entscheidungen treffen müssen, die auf unvollständigen Informationen beruhen. Zweitens sollen Informationen über den Start von Kampfjets geteilt und drittens provokante Militärmanöver vermieden werden.
Unter Bezugnahme auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrats fordern die Gruppen in dem Schreiben, dass Atomwaffen so umgearbeitet werden sollen, dass es in Kampfsituationen länger dauert, sie zum Einsatz zu bringen. Mit diesem sogenannten ‘De-Alerting’ soll die Hemmschwelle, nukleare Waffen zu nutzen heraufgesetzt werden. Dies entspricht unter anderem der UN-Resolution ‘Operational Readiness of Nuclear Weapon Systems’, die von Neuseeland, der Schweiz, Schweden, Chile, Malaysia und Nigeria unterstützt wurde, sowie der von Indien eingebrachten Resolution ‘Reducing Nuclear Dangers’.
Zudem wird in dem Schreiben darauf hingewiesen, dass sich die USA und Russland 1998 auf ein gemeinsames Zentrum zum Datenaustausch verständigt hatten, nachdem es drei Jahre zuvor zu einem ‘Beinahe-Zwischenfall’ gekommen war. Damals war eine Wetterforschungsrakete irrtümlich für eine von einem U-Boot abgefeuerte ballistische Rakete gehalten worden. Die Übereinkunft wurde mehrmals verlängert, zuletzt im Jahr 2010. Das Datenaustauschzentrum wurde bisher aber nicht eingerichtet.
Darüber hinaus müsse eine ‘No first use’-Strategie vereinbart werden sowie das Verbot von Angriffen auf Städte, um große Mengen an schwarzem Rauch zu vermeiden, der den sogenannten nuklearen Winter auslöst.
Sorge wegen Ukraine-Konflikt
An die Adresse Putins und Obamas gerichtet, erklären die Abrüstungsgruppen, dass sie die Sorge oder sogar die Alarmstimmung teilen, die die Generäle Cartwright und Dworkin, IPPNW und andere Beobachter weltweit zum Ausdruck gebracht hätten. In einer von ‘Global Zero’ unter Federführung von Cartwright und Dworkin vorgelegten Studie zum Thema ‘De-Alerting’ heißt es, dass “Spannungen zwischen Russland und dem Westen wegen der Ukraine die Parteien einen Schritt näher zum Abgrund des atomaren ‘Spiels mit dem Feuer’ gebracht” haben. An diesem Punkt erhöhten sich die nuklearen Risiken schlagartig.
Die Unterzeichner des Schreibens erwähnen, dass am vergangenen 16. September – dem 40. Jahrestag der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, die den Grundstein für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa legte, – die Parlamentarische Versammlung der OSZE eine Resolution verabschiedete, in der “tiefe Sorge angesichts der erhöhten nuklearen Bedrohung aufgrund der sich verschlechternden Beziehungen zwischen Russland und der NATO” zum Ausdruck gebracht wurde. Alle OSZE-Staaten, die Atomwaffen besitzen oder gemeinsame Strategien zur atomaren Abschreckung verfolgen, sollten die Risiken für einen Atomkrieg minimieren, indem sie die hohe Alarmstufe für Kernwaffen absenken und ‘No first use’-Strategien umsetzen. (IPS/Corina Kolbe/12.10.2015)