Von Ramesh Jaura
BERLIN (IDN) – Als Setsuko Thurlow von der 50. Ratifizierung erfuhr, die das Inkrafttreten des UN-Vertrags für ein Verbot von Atomwaffen (TPNW) Anfang nächsten Jahres möglich macht, war sie nicht in der Lage, sich von ihrem Stuhl zu erheben. “Ich blieb einfach sitzen, nahm meinen Kopf in beide Hände und weinte Freudentränen.”
Setsuko Thurlow ist Überlebende des Atombombenanschlags auf Hiroshima und eine langjährige Aktivistin für die Abschaffung von Atomwaffen. “Ich ertappte mich dabei, wie ich mit den Geistern der Hunderttausenden von Menschen sprach, die in Hiroshima und Nagasaki ihr Leben ließen”, sagte sie in einer Erklärung, die auf der Webseite der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Kernwaffen (ICAN) veröffentlicht wurde.
“Ich teilte diese gute Nachricht zuerst mit den Toten, denn sie zahlten mit ihrem Leben den höchsten Preis”, fügte sie mit Blick auf den am 24. Oktober erzielten Durchbruch hinzu. Die Nachricht habe in ihr ein Gefühl von tiefster Dankbarkeit und Zufriedenheit, Befreiung und Erleichterung, dass etwas Wichtiges ereicht worden sei, ausgelöst.
Inkrafttreten im Januar
“Ich weiß, dass andere Überlebende diese Gefühle mit mir teilen – unabhängig davon, ob sie die Hiroshima und Nagasaki, die Nukleartests im Südpazifik, in Kasachstan, in Australien, Algerien oder den Uranabbau in Kanada, den USA oder im Kongo überlebt haben”, fuhr sie fort. Der UN-Vertrag, der die Vernichtung und das Einsatzverbot aller Atomwaffen anstrebt, tritt am 22. Januar 2021 in Kraft.
Wie aus einem Statement verschiedener Glaubensorganisationen am 6. August, dem 75. Jahrestag der Bombardierungen Hiroshimas und Nagasakis, hervorgeht, verstößt die Existenz von nur einer einzigen Atomwaffe gegen die Kernprinzipien sämtlicher Glaubenstraditionen und gefährde “alles, was uns lieb und teuer ist”. Insgesamt 189 Organisationen haben die Mitteilung unterzeichnet.
Aus dem Jahrbuch des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI geht hervor, dass sich die Menschheit Anfang des Jahres von etwa 13.400 Atomwaffen bedroht sah. Diese Waffen verteilen sich auf Russland, USA, China, Frankreich, Großbritannien, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea oder werden von ihnen entwickelt. Alle neun Staaten sind erklärte Gegner des TPNW.
Kirchen gegen Atomwaffen
“Der Heilige Stuhl und die Päpste haben die Bemühungen der UN und der Welt für eine Abschaffung von Atomwaffen energisch unterstützt”, versicherte die ‘Vatikan News’. Und Papst Franziskus bekräftigte in einer Videobotschaft am 25. September zum 75-jährigen Bestehen der Vereinten Nationen die Bedeutung, die den wichtigsten internationalen und rechtlichen Instrumenten für nukleare Abrüstung, Nichtverbreitung und für ein Einsatzverbot zukommt.
Auch der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), der mehr als 550 Millionen Christen insbesondere der anglikanischen, orthodoxen und protestantischen Kirchen vertritt, würdigte die Ratifizierung des Atomwaffenverbotsabkommens. Sie habe die 90-Tage-Frist für das Inkrafttreten des TPNW eingeläutet und einen neuen normativen Standard innerhalb des Völkerrechts geschaffen.
“Das heißt, dass die Beitrittsländer das Abkommen nun umsetzen müssen”, freute sich Peter Prove, Leiter der ÖRK-Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten.
Von historischer Bedeutung
“Das Inkrafttreten des TPNW schafft die Grundlage für ein umfassendes Verbot von Kernwaffen und ist deshalb von weitreichender historischer Bedeutung”, bilanzierte Hirotsugu Terasaki, Generaldirektor der Abteilung für Friedensangelegenheiten von ‘Soka Gakkai International’ (SGI). Der internationalen Gruppe gehören Buddhisten in 192 Ländern und Gebieten an.
Terasaki brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass noch mehr Länder den Vertrag bis zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens ratifizieren und als Verbotsnorm stärken werden. “Gleichzeitig hoffe ich inständig, dass die Bedeutung und der Geist des Vertrags unter der Weltbevölkerung Verbreitung findet.”
Zu Vorwürfen, das Abkommen biete keine realistischen Sicherheitsaussichten und habe die Kluft zwischen Atomwaffenstaaten einerseits und den nuklearabhängigen Staaten und kernwaffenlosen Ländern weiter vertieft, meinte Kerasaki: “Als Bürgerinnen und Bürger dürfen wir unsere Sicherheit, unser Leben und unser Hab und Gut nicht von Atomwaffen abhängig machen.”
Rüge für die Atommächte
Für die Kluft machte er die Versäumnisse der Kernwaffenstaaten, ihren im Atomwaffensperrvertrag eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen, verantwortlich. Der UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen sei dazu geschaffen worden, der Umsetzung dieser Verpflichtungen Nachdruck zu verleihen.
Aus einer SGI-Erklärung geht hervor, man hoffe, dass die Nuklearwaffenstaaten und die nuklearabhängigen Länder inklusive Japan (wie im TPNW vorgesehen) an der ersten Tagung der TPNW-Vertragsstaaten teilnehmen und über konkrete Schritte für die Abschaffung von Kernwaffen nachdenken werden. Das Treffen soll innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Abkommens stattfinden.
Die Bedeutung des TPNW ist auch vor dem Hintergrund des neuen internationalen Rüstungswettlaufs zu sehen. “Die Modernisierung und Miniaturisierung von Atomwaffen schreitet voran und verfolgt das Ziel, diese Waffen einsetzbar zu machen”, warnte Terasaki.
Geiselnahme der Menschheit
Angesichts dieses Szenariums müsse sich die Zivilgesellschaft die Frage stellen, ob sie die Geiselnahme der Menschheit durch Atomwaffen weiter hinnehmen oder die Stimme für ein Verbot und eine Abschaffung von Kernwaffen erhebe. Die SGI werde sich weiterhin um Solidarität unter den Menschen weltweit und die Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt bemühen.
SGI drückte in ihrer Erklärung ihren Respekt gegenüber all jenen aus, die an dem langen Kampf für eine atomwaffenfreie Welt beteiligt sind: die Hibakusha, wie die Überlebenden von Hiroschima und Nagasaki genannt werden, die Staaten, die das Anliegen unterstützen, die Vereinten Nationen und ihre Organisationen sowie internationale Gruppen und Verbände, die sich für die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete ICAN-Bewegung engagieren.
Sergio Duarte, der Vorsitzende der Pugwash-Konferenzen zu Wissenschaft und Weltgeschehen, und Paolo Cotta Ramusino, der Generalsekretär der Organisation, erklärten in einer Mitteilung, dass der TPNW dem gesunden Menschenverstand und der Erkenntnis entspringe, dass der Einsatz von Kernwaffen aufgrund seiner verheerenden humanitären und ökologischen Folgen gänzlich inakzeptabel sei.
Mongolei will atomwaffenfreie Zone
Von einem wichtigen politischen Signal sprach die mongolische Nichtregierungsorganisation ‘Blue Banner’. Der ICAN-Partner unter dem Vorsitz des ehemaligen mongolischen Botschafters bei den Vereinten Nationen, Jargalsaikhany Enkhsaikhan, war 2005 mit dem Ziel gegründet worden, sich für die nukleare Nichtverbreitung einzusetzen und die Initiative der Mongolei zu unterstützen, das Land in eine atomwaffenfreie Zone (NWFZ) zu verwandeln.
Die Juristenverbände ‘Lawyers Committee on Nuclear Policy’ (LCNP) und ‘Western States Legal Foundation’ (WSLF) drängen die USA dazu, ihren Widerstand gegen das TPNW aufzugeben und einen Paradigmenwechsel “weg von der staatlichen und hin zur menschlichen Sicherheit” zu vollziehen. [IDN-InDepthNews – 10. November 2020]
Bild: Albin Hillert / ÖRK, 2017